Sonntag, 25. August 2013

Von Foodporn und dem gefälschten Carpe diem



Oder: welche Berechtigung hat heutzutage noch ein Scheiss-Tag?

Als ich es das letzte Mal von „Carpe diem“ hatte, ging es hauptsächlich um schwarze Tinte auf muskulösen Männeroberarmen. Auch wenn das Bild nicht schlecht ist, lässt es mich aus einem anderen Grund nicht mehr los. Das oldschool CARPE DIEM hat eine Subline bekommen: „Lebe jeden Tag, als wäre es dein letzter“ und damit bin ich absolut nicht einverstanden. Im Gegenteil, ist das nicht gefährlich und selbstzerstörerisch?

Die simple Übersetzung „Geniesse den Tag“ ist laut Literatur nicht ausreichend für das Sinnbild, das Horaz zeichnen wollte. Die knappe Lebenszeit heute geniessen und nichts auf morgen zu verschieben, war seine Forderung dahinter.  Doch jeden Tag damit zu verbringen damit zu rechnen, das man morgen vielleicht nicht mehr unter den Lebenden verweilt, kann doch nicht gesund sein. Es hält uns davon ab mit dem euphorischem Optimismus aus dem Bett zu steigen der sagt „Hey, ich bin einer von hunderten Tagen deines Lebens, mach mit mir was du willst.“

Stattdessen rubbeln wir uns die Finger auf Aluminium-Silikat wund und versuchen, möglichst beiläufig wirkend, zu dokumentieren wie sehr wir unseren Tag genutzt haben. Diese Modellierung unserer selbst durch den Filter des Internets hat den Vorteil, dass wir nicht zeigen müssen wer wir sind – sondern aus uns machen können, wer wir sein möchten. Wir sind unfassbar sportlich, reisen an die beeindruckendsten Orte, essen das beste Essen der Stadt oder sind selbst fotogefilterte Spitzenköche auf gelbstichigem Farbfilter an hübschem Retro-Rähmchen. Dank „sozialer“ Plattformen sind wir nicht mehr alleine, egal was wir machen. Wir stehen unter der Beobachtung einer Masse die wir als „Freunde“ deklariert haben. Der permanente Druck das Beste aus einem Tag heraus zu holen und dabei möglichst ein oder zwei Freunde in Perfektion und Extravaganz zu übertrumpfen. Wenn die Dokumentation des Erlebten wichtiger wird, als das Erleben selbst. Wie viele verwackelte Konzertmitschnitte auf denen weder der Sänger noch der Sound erkennbar waren habt ihr schon ansehen müssen? Da waren doch Tante Monis Ferienbilder aus Sylt noch spannender.

Eine Frage: wenn ich einen Tag geniesse – darf ich ihn gleichzeitig auch vergeuden? Wer kennt sie nicht, diese verregneten Ekel-Tage nach einer anstrengenden Woche im Büro. Die, die man auf der Couch lungernd vor MTVs „Geordie Shore“ liegt und bis zum Abend nichts Besseres im Sinn hat, als eventuell mal auf Arte nach einer Pinguin-Dokumentation Ausschau zu halten. Auch der Teller Spaghetti wird an diesem Tag nicht schöner, wenn man ihn durch den Fotofilter jagt. Ich stelle mir im Gegensatz dazu immer vor, dass diese „Carpe diem“-Menschen mindestens einmal die Woche einen Bungee-Sprung machen und vor dem Ins-Bett-Gehen jeden Abend die Hände falten und sich für den tollen Tag bedanken. Nur, damit das auch vorm lieben Gott dokumentiert ist – sollte das Leben am Ende des Tages dann doch vorbei sein. Wäre es nicht viel sinnvoller die Hand seines Partners zu schnappen, oder der besten Freundin zu schreiben und wilde, kleine und grosse Pläne für die Zukunft zu schmieden?

Betrachten wir uns einmal nicht als Individuum, sondern als Teil der Gesellschaft scheint uns doch auch nichts wichtiger zu sein, als Nachhaltigkeit. Wie sonst erklären wir die überdimensionierten Absätze von Bio-Label-Produkten? Wir achten nicht nur auf soziale Vertretbarkeit unserer Bananen sondern möchten, dass Äpfel aus der Region kommen, zwar wurmfrei aber mit einem grünen Bio-Kleber. Wenn die Nutzung eines unumgänglichen iPhones schon zahlreiche unglückliche Seelen in China, Indien oder sonst wo fordert, dann sollte doch wenigstens der Kaffee-Anbauer von einem liebenswürdigen Label ein paar Rappen mehr zugesteckt bekommen, damit der Kaffee auch gleich wieder viel besser schmeckt. Wir verschlingen Gesundheitstipps die uns das Alter erleichtern sollen. Wir quälen uns zum Sport, auch wenn gerade diese neue TV-Serie laufen würde die wir sehen wollten. Warum, wenn doch heute unser letzter Tag sein könnte. Glauben wir etwa heimlich doch an ein „morgen“?

Das Leben als solches hat sich keiner von uns ausgesucht. Unsere Eltern haben das für uns entschieden. Ob aus Vernunft oder Spass daran, haben wir uns dann im Verlauf der Jahre entschieden dieses Geschenk anzunehmen und mit mehr oder weniger Sinn zu füllen. Dabei ging es immer um das Leben als Ganzes und nicht um den Tag, der gerade auf dem Kalenderblatt prangte. Und dennoch werden wir ständig von diesen Zitat-Junkies aufgefordert alles was wir haben, genau heute zu verschwenden. Wir planen akribisch, wir präsentieren uns wohlbedacht, wir bauen um unsere Persönlichkeit eine Hülle der Unverwechselbarkeit. Warum dann nicht auch mal wieder laut heraus „träumen“. Mal wieder ganz ehrlich auf einen Tag verzichten und das Morgen wichtiger machen wie das „Jetzt sofort“. Entschleunigen würde die Presse dazu sagen, geniessen würde meine Grossmutter es wahrscheinlich nennen und wir? Wir nennen es wahrscheinlich bald Unabhängigkeit. Solange wir bei allem was wir tun links und rechts schauen, werden wir immer den Kürzeren ziehen. Denn was ist eine 30 Meter Jacht, wenn eine 50 Meter Jacht daneben steht? Das feinmaschige Netz des Internets, das uns ständig die Freundes-Freunde unserer sogenannten Freunde vor die Nase hält hat immer eine Geschichte parat, die unser kleines Leben übertrumpfen wird. Also heisst es für uns: einmal ganz tief in sich hinein hören. Was will ich, was ist mir wichtig und was macht mich glücklich. Nur mich. Nicht die anderen. Ich nenne es das „Dose Ravioli“-Symptom. Eignet sich weder für Gourmet-Bilder noch für grosse Ereignis-Berichte, aber ich kenne doch den einen oder anderen da draussen, den eine Dose Ravioli glücklich macht. Und noch ein kleiner Tipp am Rande, habt ihr euch schon mal dabei erwischt euren Freunden eine Geschichte merklich beschönigt und ohne schmutzige Details erzählt zu haben? Das ist das Wunder des „social media“, ein Schimmer-Filter zwischen dir uns der Wahrheit der anderen.

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