Freitag, 19. Juli 2013

Ein schwarzer Sommer



Oder: noch ein diem der gecarpt wird

In diesem Sommer gibt es nur zwei Dinge über die sich jeder lauthals beschwert. Das erste verdanken wir diesem seltsam beleidigenden Frühjahr (ich nehme das persönlich), das sich mit trotzenden Regenwolken und bibber-kalten Nachmittagen bis in den Juli hinein breit gemacht hat. So sind wir alle zu kleinen Meteorologen geworden. „Noch NIE hat es einen solch kalten Juni gegeben!“  „Und sowieso, der Regenfall pro Quadratmeter konnte auf dem städtischen Betonboden, dank des Baufortschritt des letzten Jahrzehnts, nicht mehr vom rohen Landboden aufgesaugt werden.“ Öhm, ja – gesundes Halbwissen und gesellschaftlicher Pessimismus.

Genug gejammert über das Wetter, jetzt reisst man sich zum Glück wieder in alter Sommer-Manier die Kleider vom Leib und tummelt sich an den Schauplätzen der Stadt. Doch, oh Schreck, über den langen Winter hat sich eine Seuche ausgebreitet. Sie ist schwarz und grossflächig, meist am Rücken oder an den Oberarmen ausgebrochen – breitet sie sich vom Brandherd weg schnell auf dem ganzen Körper aus. Es sieht aus, als wäre irgendwo ein Poesie-Album geplatzt und die herumfliegenden Seiten hätten sich auf den Körpern der im Winterschlaf liegenden Stadtkinder eingebrannt. Wenn man mal nicht weiss, was man der unbeliebten Tante in die Geburtstagskarte schreiben soll, muss man sich nur auf einen Spaziergang um den See begeben und es hagelt nur so an Lebensweisheiten in Form von tief in die Haut gestochenen Tinte-Kritzeleien. 

Ein weiterer Schritt der (R)Evolution? Ätsch lieber Gott, du hast uns zu ähnlich gemacht, jetzt zeigen wir dir was wir können! Es ist die Fortsetzung zu „Ich versteh die Welt nicht mehr“, ich hätte heute wieder anfangen können mit: Dazugehören kann man heute nur, wenn man nicht dazugehört. Laut Literatur war das Tattoo einst eine Markierung um Zugehörigkeit zu zeigen. Und wir bestreben das Gegenteil, möchten möglichst individuell sein, mit der Nebenwirkung, dass wir am Ende alle wieder gleich sind. Es ist unsere Schizophrenie. Unsere Generation sucht verzweifelt das Mittel zur absoluten Individualisierung und endet in der Masse der Gleichheit. Man kann Müsli im Internet bestellen, bis aufs einzelne Korn individualisiert. Und kurz bevor man seine Individualität in einem Schüsselchen mit Milch ertränkt, schlägt der Onlinegenerator uns ein ähnliches Müsli vor, das total gut zu unseren Bedürfnissen passt. Ade ich, Hello alle.

Ein anderer Gedanke: die Fachliteratur definiert, dass sich eine Marke bildet, indem man eine Schrift- und/oder Bildmarke erstellt welche die Werte der Marke wiederspiegelt und nachhaltig dafür steht. Ist es das? Wollen wir alle kleine Unternehmen sein, die sich durch Wort und Bild langfristig anderen gegenüber positionieren? Sind wir in einem menschlichen Konkurrenzkampf um die vorderen Ränge der Gesellschaft getreten, indem wir uns mit Bildern versehen? Was früher das Einfamilien-Reihenhaus war, ist heute das Carpe diem auf dem Oberarm? Der Wert der Marke definiert sich aber auch über die Einzigartigkeit, solange also Sprüche aus Alben geklaut und Bilder abgepaust und aufgeklebt werden, sind wir nicht mal einen Platz im Supermarktregal wert.

Also wer sind wir und sind wir uns selbst nicht genug? 

Machen wir ein Experiment, lauf ein Stück und nach einer Weile bestimme ganz genau wo du bist. Wie machst du das? Die altmodischen Kauze unter uns sagen nun, blicke zurück – oder blicke nach vorn und mach dir ein Bild wo du stehst. Die Technologie verwöhnten unter uns, greifen automatisch zum Handy und stellen die Standortbestimmung irgendeiner vorinstallierten Software ein. Und wo stehen wir nun wirklich? 

Und so geht es auch mit der Frage nach dem „wer sind wir“? Der Weg der hinter uns liegt? Der Weg der vor uns liegt? Und was macht es aus uns, dass das Internet uns ständig sagt wer wir sind und was wir am liebsten möchten? Am Ende ist es doch nicht weiter verwunderlich, dass wir uns unsere Geschichte auf die Haut holen, sowie unsere Wünsche an die Zukunft um wenigstens den Augenblick bei uns halten zu können.