Oder: noch ein diem der gecarpt wird
In diesem Sommer gibt es nur zwei Dinge über
die sich jeder lauthals beschwert. Das erste verdanken wir diesem seltsam beleidigenden
Frühjahr (ich nehme das persönlich), das sich mit trotzenden Regenwolken und
bibber-kalten Nachmittagen bis in den Juli hinein breit gemacht hat. So sind
wir alle zu kleinen Meteorologen geworden. „Noch NIE hat es einen solch kalten
Juni gegeben!“ „Und sowieso, der
Regenfall pro Quadratmeter konnte auf dem städtischen Betonboden, dank des Baufortschritt
des letzten Jahrzehnts, nicht mehr vom rohen Landboden aufgesaugt werden.“ Öhm,
ja – gesundes Halbwissen und gesellschaftlicher Pessimismus.
Genug gejammert über das Wetter, jetzt reisst
man sich zum Glück wieder in alter Sommer-Manier die Kleider vom Leib und
tummelt sich an den Schauplätzen der Stadt. Doch, oh Schreck, über den langen
Winter hat sich eine Seuche ausgebreitet. Sie ist schwarz und grossflächig,
meist am Rücken oder an den Oberarmen ausgebrochen – breitet sie sich vom
Brandherd weg schnell auf dem ganzen Körper aus. Es sieht aus, als wäre
irgendwo ein Poesie-Album geplatzt und die herumfliegenden Seiten hätten sich
auf den Körpern der im Winterschlaf liegenden Stadtkinder eingebrannt. Wenn man
mal nicht weiss, was man der unbeliebten Tante in die Geburtstagskarte
schreiben soll, muss man sich nur auf einen Spaziergang um den See begeben und
es hagelt nur so an Lebensweisheiten in Form von tief in die Haut gestochenen
Tinte-Kritzeleien.
Ein weiterer Schritt der (R)Evolution? Ätsch
lieber Gott, du hast uns zu ähnlich gemacht, jetzt zeigen wir dir was wir
können! Es ist die Fortsetzung zu „Ich versteh die Welt nicht mehr“, ich hätte heute
wieder anfangen können mit: Dazugehören kann man heute nur, wenn man nicht
dazugehört. Laut Literatur war das
Tattoo einst eine Markierung um Zugehörigkeit zu zeigen. Und wir bestreben das
Gegenteil, möchten möglichst individuell sein, mit der Nebenwirkung, dass wir am
Ende alle wieder gleich sind. Es ist unsere Schizophrenie. Unsere Generation
sucht verzweifelt das Mittel zur absoluten Individualisierung und endet in der
Masse der Gleichheit. Man kann Müsli im Internet bestellen, bis aufs einzelne
Korn individualisiert. Und kurz bevor man seine Individualität in einem
Schüsselchen mit Milch ertränkt, schlägt der Onlinegenerator uns ein ähnliches
Müsli vor, das total gut zu unseren Bedürfnissen passt. Ade ich, Hello alle.
Ein anderer Gedanke: die Fachliteratur definiert, dass sich eine Marke
bildet, indem man eine Schrift- und/oder Bildmarke erstellt welche die Werte
der Marke wiederspiegelt und nachhaltig dafür steht. Ist es das? Wollen wir
alle kleine Unternehmen sein, die sich durch Wort und Bild langfristig anderen
gegenüber positionieren? Sind wir in einem menschlichen Konkurrenzkampf um die vorderen
Ränge der Gesellschaft getreten, indem wir uns mit Bildern versehen? Was früher
das Einfamilien-Reihenhaus war, ist heute das Carpe diem auf dem Oberarm? Der
Wert der Marke definiert sich aber auch über die Einzigartigkeit, solange also
Sprüche aus Alben geklaut und Bilder abgepaust und aufgeklebt werden, sind wir
nicht mal einen Platz im Supermarktregal wert.
Also wer sind wir und sind wir uns selbst nicht genug?
Machen wir ein Experiment, lauf ein Stück und nach einer Weile bestimme
ganz genau wo du bist. Wie machst du das? Die altmodischen Kauze unter uns
sagen nun, blicke zurück – oder blicke nach vorn und mach dir ein Bild wo du
stehst. Die Technologie verwöhnten unter uns, greifen automatisch zum Handy und
stellen die Standortbestimmung irgendeiner vorinstallierten Software ein. Und
wo stehen wir nun wirklich?
Und so geht es auch mit der Frage nach dem „wer sind wir“? Der Weg der
hinter uns liegt? Der Weg der vor uns liegt? Und was macht es aus uns, dass das
Internet uns ständig sagt wer wir sind und was wir am liebsten möchten? Am Ende
ist es doch nicht weiter verwunderlich, dass wir uns unsere Geschichte auf die
Haut holen, sowie unsere Wünsche an die Zukunft um wenigstens den Augenblick
bei uns halten zu können.